Bricolage: Was macht einen Ort zum Raum?
Gegenüber dem Haus meiner Großeltern in St. Arnual (Saarbrücken) stand im Stockenbruch ein Gebäude, das mich damals begeisterte, faszinierte und gleichzeitig irritierte. Denn es war ein Hochhaus, halbrund, und es ragte weit über die anderen Gebäude hinaus. Ich fragte mich damals oft, wie es denn in den Wohnungen wohl aussehen würde: Welche Menschen wohnen in dem Haus mit dem Namen Habitat im Stockenbruch? Wie fühlt es sich an, in so einem Haus zu wohnen? Und wird die Identität eines Gebäudes von den Menschen beeinflusst oder beeinflussen das Gebäude und seine Architektur die Menschen, die dort leben? Ich fühlte mich in dieser Siedlung um das Habitat als Kind sicher und geborgen, obwohl die Welt in den 80er Jahren im Kalten Krieg im Allgemeinen nicht so ein Gefühl vermittelte. Würde ich vier Jahrzehnte später das gleiche Gefühl wiederfinden?
Für meinen fotografischen Spaziergang durch das Gebäude gab ich mir Instruktionen, wie ich vorgehen wollte: Was fühle ich, wenn ich durch das Gebäude gehe? Welche Erkenntnisse kann ich über das Gebäude sammeln, die ich aus meiner Erinnerung in einer Art Embodied Knowledge durch das Fotografieren generiere? Meine Hauptfrage an das Gebäude war: Was macht einen Ort wie das Habitat zum Raum und was braucht es aus heutiger Sicht für einen sozialen Raum? Welche Geschichten würde das Gebäude mir dazu erzählen?
Das Habitat wurde 1953 im Kontext der Vision zu einem friedlichen Europa geschaffen. Den Menschen im Saarland war diese Vision, Sitz der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zu werden, wohl zu futuristisch. Sie entschieden sich pragmatisch bei der Wahl 1955 gegen das Saar-Statut und wurden so Teil der BRD. Auch heute fragen wir uns, wie die Zukunft eines friedlichen Europas sich gestalten lässt. Nur haben sich die Bedarfe in der heutigen Zeit, verglichen zur Zeit von 1953, beträchtlich weiterentwickelt. Themen wie Nachhaltigkeit, Inklusion und Diversität durch Teilhabe, Partizipation und Barrierefreiheit entsprechen in der Gestaltung des Stadtraums weitaus mehr dem Kontext der Gegenwart und sind die Voraussetzungen zu dem, was einen Ort zum sozialen Raum macht. Gleich einer Bricolage* besteht der soziale Raum aus einem Experimentieren, einem Do-it-yourself in der Teilhabe aller, nicht in einem Ausschließen, sondern einem Einbeziehen von verschiedenen Meinungen, Sichtweisen, Perspektivenwechseln und dem Mut zum Experiment. Das Habitat im Stockenbruch steht für mich für diesen Gedanken. Denn ça marche encore. Die Bricolage besteht in meinem Verständnis aus einem Bottom-Up-Prozess, Traditionen zu bewahren, gleichzeitig zu überdenken und daraus Neues und für die Bedarfe aller etwas Passendes für den Kontext der Gegenwart zu gestalten. Es gleichzeitig überwerfen zu können, um aus den Bestandteilen etwas Neues zu bauen. Ziel meines fotografischen Spaziergangs durch das Habitat war es, genau diesen Gedanken fotografisch im Bild zu visualisieren. Als theoretische Grundlage dienten mir die folgenden beiden Ausarbeitungen: Buch 1: Saarbrücken zu Fuß. 17 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Jürgen Albers, Ursula Blaß, Dirk Bubel, Harald Glaser, Erschienen im VSA-Verlag, 1989. Buch 2: Die Geburt des Saarlandes. Zur Dramaturgie eines Sonderweges. Hrsg. Ludwig Linsmayer. In der Reihe ECHOLOT. Landesarchiv Saarbrücken, Saarbrücken 2007.
Die Serie entstand während des Internationalen Forschungsateliers zur Architekturfotografie „Man weiß nur, was man sieht“ - Bauten und ihre Abbildungen als Wissensquelle über die deutsch-französischen Beziehungen im Saarland nach 1945 im September.ENSA Straßburg, BTU Cottbus, Deutsch-Französischen Hochschule (DFH). Ausstellung der Fotografien auf der Jahrestagung des Deutschen Werkbundes (Saarbrücken, 3. - 6. Oktober 2024).
Mit freundlicher Unterstützung der WOGE** Saar.
*: Bricolage = Heimwerkerei/Bastelei, **: WOGE = eine Wohnungsbaugesellschaft in Saarbrücken
Entstehungszeitraum der Serie: 18.09.2024